12.9.69

L’armée des ombres (Jean-Pierre Melville, 1969)

Armee im Schatten

Scènes de la vie de résistance … Jean-Pierre Melville verfolgt – unpathetisch, aber keinesfalls leidenschaftslos – die Aktivitäten einer Widerstandsgruppe im von Deutschen besetzten Frankreich. Die episodische Erzählung umfaßt einen Zeitraum von vier Monaten zwischen dem 20. Oktober 1942 und dem 23. Februar 1943 und führt von Marseille nach Paris, von Lyon nach London (wo General de Gaulle, der Anführer der France libre, sein Hauptquartier aufgeschlagen hat), durch Hinterzimmer und Geheimverstecke, durch Internierungslager und Foltergefängnisse. Melville, während des Krieges selbst Mitglied der Résistance, schildert dabei keine Partisanenaktionen im eigentlichen Sinne: keine Nachrichtenbeschaffung, keinen Sabotageakt, kein Attentat; Pierre Lhommes Kamera zeigt, in dunklen, entsättigten Bildern, ausschließlich Menschen in Gefahr, Menschen auf der Flucht, Menschen in der Falle, Menschen, die in Erfüllung einer höheren Pflicht schreckliche Dinge tun müssen. Kaum je verraten die Gesichter von Lino Ventura, Paul Meurisse, Simone Signoret und all den anderen etwas über die Emotionen der Protagonisten dieses bei aller formalen Distanziertheit sehr persönlichen, sehr anrührenden Films. Es ist ein unsichtbares Band von stiller Kameradschaft und wortlosem Mitgefühl, das die Armee der Schatten zusammenhält. Auch wenn ihr klandestines Tun vergeblich scheint, bleibt es doch ohne Alternative – so gehen Gerbier, Jardie, Mathilde und all die anderen den vorgezeichneten Weg, aufrecht und unbeirrt, bis zum bitteren Ende.

R Jean-Pierre Melville B Jean-Pierre Melville V Joseph Kessel K Pierre Lhomme M Éric Demarsan A Théobald Meurisse S Françoise Bonnot P Jacques Dorfmann D Lino Ventura, Paul Meurisse, Simone Signoret, Jean-Pierre Cassel, Claude Mann, Serge Reggiani | F & I | 145 min | 1:1,66 | f | 12. September 1969

# 949 | 1. Juni 2015

10.9.69

Hibernatus (Edouard Molinaro, 1969)

Der Winterschläfer | Onkel Paul, die große Pflaume 

Surreal-erhellende Familienfarce mit dem unvergleichlichen Kistenteufel Louis de Funès als Nachfahre eines gewissen Paul Fournier, der 65 Jahre nach dem Untergang eines Dampfbootes auf Grönlandfahrt aus dem Packeis geborgen und erfolgreich aufgetaut wird. Eine wissenschaftliche Sensation! Das Fleisch des anno 1905 Tiefgefrorenen ist so jugendfrisch wie am Tag des Schiffbruchs, doch sein Geist scheint akut gefährdet: Könnte der »Hibernatus« den Schock des Zeitsprungs verkraften? Könnte er die brutalen Völkerschlachten begreifen, die während seiner frostigen Abwesenheit abrollten? (»La guerre de 14. PAF! La guerre de 40. PAF!«) Könnte er den Wahnwitz aushalten, den die Moderne inzwischen entfesselt hat? Die Flugzeuge in Zigarrenform (»ZOF!«), die in New York landen, bevor sie in Paris gestartet sind? Die elektrischen Gitarren? Die Atome? Das Fernsehen? »Les hommes deviennent fous! Ils deviennent fous! La, la, la …« Und so mimen die Abkömmlinge eine intakte Welt, eine heile Belle Époque, um dem rührend unverdorben wirkenden Heim(?)kehrer die Absurdität ihrer verrückten Ära zu ersparen. Vergeblich, wie man ahnt, denn zum einen läßt sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, zum anderen ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde, und ist nichts Heimliches, das nicht hervorkomme.

R Edouard Molinaro B Jacques Vilfried, Jean Bernard-Luc, Louis de Funès, Jean Harlan V Jean Bernard-Luc K Marcel Grignon, Raymond Pierre Lemoigne M Georges Delerue A François de Lamothe S Monique Isnardon, Robert Isnardon P Alain Poiré D Louis de Funès, Claude Gensac, Michael Lonsdale, Bernard Alane, Pascal Mazzotti | F & I | 82 min | 1:2,35 | f | 10. September 1969

6.9.69

Krasnaja palatka (Michail Kalatosow, 1969)

Das rote Zelt

Ende der sechziger Jahre sprach Jean-Luc Godard vom »gewaltigen Hollywood-Mosfilm-Cinecittà-Pinewood-Imperium«, das weltweit Kunstverständnis und Formgefühl des Kinos präge. Mit seinem letzten Werk, einer opulenten sowjetisch-italienischen Koproduktion über die spektakulär gescheiterte Nordpol-Mission des Luftschiffs ›Italia‹ im Jahr 1928 und die ebenso spektakuläre anschließende Rettungsaktion, liefert Michail Kalatosow ein Paradebeispiel für den von Godard geschmähten »internationalen Stil« filmischer Epik. Aus der hochinteressanten Prämisse – vier Jahrzehnte nach den Ereignissen lädt der von Gewissensbissen geplagte Expeditionsleiter Umberto Nobile (Peter Finch) die Geister der Beteiligten, darunter seinen Freund und Konkurrenten Roald Amundsen (Sean Connery), zu einem imaginären nächtlichen Prozeß – schlägt die Regie kaum Funken: Kalatosow erzählt kon­ventionell nach, reflektiert über die Bürde des Führens, schildert durchaus eindrucksvoll den Durchhaltekampf im ewigen Eis, aber nur selten gewinnen die Bilder jene autonome Kraft, die seine Meisterwerke auszeichnet – das Fehlen des Kameragenies Ussurewski macht sich schmerzlich bemerkbar. Hin und wieder durchbricht Kalatosows inszenatorisches Temperament die formale Solidität von »Krasnaja palatka«: wenn ein verliebtes Paar euphorisch durch den Schnee wirbelt, wenn ein sowjetischer Funkamateur die Signale der Überleben den auffängt, wenn der Leningrader Eisbrecher ›Krassin‹ zur Bergungsfahrt aufbricht, wenn der verschollene Amundsen das bizarre Wrack der ›Italia‹ erkundet, wenn Menschen zu Marginalien unendlicher Landschaften werden.

R Michail Kalatosow B Ennio De Concini, Richard Adams K Leonid Kalaschnikow M Ennio Morricone A Michail Fischgoit S Peter Zinner P Franco Cristaldi, Victor Freilich D Peter Finch, Claudia Cardinale, Sean Connery, Hardy Krüger, Mario Adorf, Eduard Martsewitsch | SU & I | 121 (158) min | 1:1,66 | f | 6. September 1969

5.9.69

Que la bête meure (Claude Chabrol, 1969)

Das Biest muß sterben

»Denn es gehet dem Menschen wie dem Vieh; / wie dies stirbt, so stirbt er auch.« Das Meer. Ein Kind spielt am Strand. Ein Auto rast die Küstenstraße entlang. Das Kind läuft nach Hause. Das Auto rast in eine Ortschaft. Die Glocken läuten. An einer Kreuzung treffen Kind und Auto aufeinander. Das Kind stirbt. Das Auto rast weiter. Der Vater hält das tote Kind in seinen Armen. Später wird er sich auf die Suche nach dem Fahrer des Autos machen: »Je vais tuer un homme. Je ne connais ni son nom, ni son adresse, ni son apparence. Mais je vais le trouver et le tuer.« Der Zufall – der das einzige ist, was existiert, und in diesem Fall die Gestalt der blonden Hélène (Caroline Cellier) annimmt – führt den introvertierten Einzelgänger Charles (Michel Duchaussoy) zum reizbaren Haustyrannen Paul (Jean Yanne). Die Ausführung des Vorhabens erweist sich indes, obwohl oder gerade weil der Täter ein so unverblümtes (und überaus lebenstüchtiges) Scheusal ist, als problematisch – und peu à peu verwandelt Claude Chabrol den geradlinigen Rachethriller in eine abgründige Reflexion (oder einen ernsten Gesang) über Absicht und Handeln, über Schuld und Verantwortung. Das Ende des Films führt wieder ans Meer. Ein Mann allein. Ein Boot, das hinausfährt. Die Wellen, die Felsen, die Brandung. »Und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh: / denn es ist alles eitel.«

R Claude Chabrol B Paul Gégauff, Claude Chabrol V Nicholas Blake K Jean Rabier M Pierre Jansen A Guy Littaye S Jacques Gaillard P André Génovès D Michel Duchaussoy, Jean Yanne, Caroline Cellier, Anouk Ferjac, Maurice Pialat | F & I | 112 min | 1:1,66 | f | 5. September 1969

# 1107 | 8. Mai 2018

3.9.69

Fellini – Satyricon (Federico Fellini, 1969)

Fellinis Satyricon

Jenseits aller bekannten Klischees von Antikenfilmen zaubert Federico Fellini (zusammen mit hochkarätigen künstlerischen Mitstreitern wie dem langjährigen Visconti-Kameramann Giuseppe Rotunno und Pasolinis Chef-Ausstatter Danilo Donati) aus dem fragmentarischen Roman des Petronius seine ureigene Phantasmagorie des römischen Altertums. Die Sprung- und Lückenhaftigkeit des Geschehens wird ebenso zum formalen Prinzip erhoben wie der krasse Anti-Naturalismus des Spiels, der Bauten, der Masken und der Kostüme. In den Fokus geraten immer wieder die beiden gutgebauten Herumtreiber Encolpius und Ascyltus sowie ihr ätherischer Lustknabe Giton, die sich ziellos durch ein archaisches Panoptikum bewegen, dessen grotesk arrangierte lebende Bilder als diffuse Projektionen aktueller gesellschaftlich-kultureller Phänomene erscheinen: die Erosion überkommener Moralvorstellungen und die Auflösung von Geschlechterrollen klingt ebenso an wie radikaler Hedonismus und schöpferische Impotenz. Als metaphorische Analyse gegenwärtiger sozialer Entwicklungen bleibt »Fellini – Satyricon« allerdings unscharf: Etwas zu selbstbesoffen verliert sich der maestro in der entfesselten mythomanischen Bilderflut, in seiner Begeisterung für bizarre Physiognomien und abnorme Körper. Die grelle Schminke, mit der Fellini sein monströses endzeitliches Sittenbild überzieht, mag auch dazu dienen, den einen oder anderen Moment gestalterischer Ermüdung zu kaschieren.

R Federico Fellini B Federico Fellini, Bernardino Zapponi, Brunello Rondi V Petronius K Giuseppe Rotunno M Nino Rota A Luigi Scaccianoce S Ruggero Mastroianni P Alberto Grimaldi D Martin Potter, Hiram Keller, Max Born, Magali Noël, Capucine | I | 128 min | 1:2,35 | f | 3. September 1969